Günter Marnau,Fotokunst 

Da saß sie nun im Fensterkreuz, die Beine lässig nach draussen gestreckt, die Nase im Wind, der gerne die angebotenen Gedanken zum Fliegen brachte.

Ihre Stadt, tief verwurzelt, undenklich lange besiedelt, Türmchen gespickt kam ihr plötzlich vor wie aus dem Weltenfluß separiert. Feinschwebend hing sie vor ihr am Abendhimmel wie ein Mond, weniger rund, mehr schwer und gewichtig von Allem, was sich im Laufe der Zeit in den Kellern und Gewölben ansammelte.

Mit scharfen Augen versuchte sie die Türme zu zählen und vielleicht auch zu identifizieren, was denn da um sie herum flog. Vögel? Hüte?

Konnte es sein, dass alles fliegende versuchte die Stadt zu verlassen? Es war nicht zu sehen. Nun kam noch Dunkelheit dazu.

Im Dunkeln ändert sich die Sichtweise dramatisch. Die tagsüber in die Keller und Gewölbe eingedrungenen Sonnenstrahlen fanden jetzt ihren Ausgang und brachten die Stadt zum Leuchten. Zwar verschwanden dadurch die Türmchen, aber dafür wurden jetzt andere Strukturen sichtbar.

Die alte Bibliothek, das größte Haus der Stadt. Stolz war sie darauf. Sicherlich ein Zweckbau, ohne architektonische Schönheiten, aber so alt und voll, dass niemand mehr sagen konnte, wann hier das erste Buch eingelagert wurde.
Die jetzt an die strahlende Dunkelheit gewöhnten Augen sahen immer deutlicher und mehr.
Da war Bewegung, plötzlich sprühte der Boden. Nicht nur, dass das Licht seinen Weg nach draussen suchte, es schien viel mehr zu passieren.
Mit großer Macht taten sich gewaltige Spalten auf, in ihnen sammelte sich das Licht, es war kein Platz mehr für die Dinge in den Kellern und Gewölben. Unerwartet akkurat, wie mit einem Lineal gezogen taten sich Spalten auf senkrecht und waagerecht. Ein Schauspiel, das die Beobachterin schweigen liess.

Kreuz und Quer. Oben und Unten waren im Streit wer wer war. Nein, es war nicht das Innere nach Aussen, es war mehr wie ein Puzzle, das versuchte sich auf eine neue Art - anders als vorgesehen - zusammenzusetzen.

Die Beobachterin saß immer noch an ihrem Platz, der sich fast noch wie vorher anfühlte, blickte auf das Geschehen vor ihr und entspannte.

Nach und nach strömte alles an seinen alten (?) Platz zurück. Wirklich zu erkennen war es (noch) nicht. Irgendetwas sickerte in die Stadt hinein.

Türmchen blitzten auf, die Augen freuten sich etwas Bekanntes zu sehen.
Nur einen Moment später war Alles anders.

Die Bibliothek war noch da, aber der Rest? Das Licht, das eigentlich jeden Abend aus den Kellern und Gewölben kroch und zu seinem Ursprung zurück kehrte, war gefangen. Der Untergrund der Stadt leuchtete und der Himmel war plötzlich dunkel, von seinem Licht verlassen.
Welche eine Vergünstigung, dachte die Beobachterin in ihrem Fensterkreuz, hierbei Zeugin gewesen zu sein. Was werden diejenigen staunen, denen ich davon erzähle.